Wenn Patienten zu Hobbychemikern werden müssen: Andreas' Weg zur selbstgemachten Cannabis-Medizin
Nicht Peter Lustig, aber trotz Schmerzen guter Dinge.
Sechs Bandscheibenvorfälle. Unerträgliche Schmerzen. Und am Ende die Erkenntnis: In Deutschland musst du dir deine Cannabis-Medizin selbst herstellen – oder du bleibst ohne.
Andreas Kamp sitzt in seinem Wohnzimmer im Kölner Raum und erzählt seine Geschichte. Es ist keine Geschichte von Rebellion oder Gesetzesverstößen. Es ist die Geschichte eines Patienten, der lernen musste, Edibles selbst herzustellen, weil ihm das deutsche Gesundheitssystem den legalen Zugang hier verweigert.
Der lange Weg vom Opioid zum Edible
"Ich habe natürlich irgendwann durch diese ganzen Problemchen, was Schmerzen angeht, die typische Spirale durchgemacht mit Schmerzmedikamenten bis hin zu Tilidin", erzählt Andreas. Die starken Schmerzmittel halfen zwar, aber zu einem Preis: "Es hat aus mir einen vollkommen anderen Menschen gemacht. Also es war schon eine gewisse Wesensveränderung, was auch mein Umfeld wahrgenommen hat und was ich so gar nicht mehr gehen wollte."
Dabei war die Alternative längst bekannt. Cannabis. Aus seiner Jugend kannte Andreas die Pflanze, doch der Zugang zur medizinischen Anwendung war schwierig."Ich hab’s auch nie verstanden, weil der Zugang zu Cannabis war ja zu der Zeit, wo ich noch Tilidin genommen habe, schon vorhanden. Aber trotzdem war es sehr, sehr schwer, Behandler zu finden, die den Weg mit mir anders weitergehen."
Die Odyssee zum cannabisaffinen Arzt
Was folgte, war das klassische Ärzte-Hopping. "Irgendwann bis du es leid, das Ärzte-Hopping zu betreiben, von Ponzius zu Pilatus zu laufen und dann immer sofort der Räume verwiesen zu werden. So nach dem Motto, das ist jemand, der will Drogen auf Rezept."
Andreas' Weg führte zunächst über die Telemedizin – "der auch sicherlich ein bisschen kostspieliger war in der Anfangszeit" – bis er nach einem Umzug das Glück hatte: "Dann sind wir irgendwann umgezogen in eine andere Region [...] und da bin ich auf einen Hausarzt gestoßen, der dem Ganzen sehr positiv gegenüber stand. Der macht auch Palliativmedizin und auch alternative Schmerztherapien."
Der Skandal: Selbstherstellung aus Notwendigkeit
Doch mit dem Rezept in der Hand begann erst die eigentliche Herausforderung. Während Cannabis-Patienten in anderen Ländern in Apotheken oder Dispensaries aus verschiedenen Edibles wählen können, steht Andreas vor leeren Regalen. In Deutschland gibt es keine zugelassenen medizinischen Edibles.
"Ich habe halt festgestellt, mit Edibles habe ich halt den riesen, riesen Vorteil, dass ich über einen sehr langen Zeitraum gut versorgt bin, meine Schmerzen sehr gut runtergefahren werden", erklärt Andreas. "Und ich möchte auch langfristig von der Inhalation eigentlich immer mehr weg."
Also blieb nur eine Option: Selbst machen. Autodidaktisch. Als Hobbychemiker aus Notwendigkeit.
Rick Simpson Öl: Vom Tutorial zum Medikament
Andreas' Recherche führte ihn zum Rick Simpson Öl (RSO). "Hab mir da extrem viele Tutorials angeguckt, Guidelines, was auch immer. Am Anfang auf Englisch, mittlerweile findest du ja auch in den gängigen Social Media Kanälen genug andere, die damit herum experimentieren."
Doch schon bei der Wahl des Lösungsmittels zeigt sich die Problematik: "Was ich damals befremdend fand, weil den ersten Artikel, den ich gelesen habe, er hat das mit Isopropanol-Alkohol gelöst, wo ich mich dann nachher gefragt habe, hey, Isopropanol, ich reinige Oberflächen damit. Du kannst es, wenn es verdünnt, als Händedesinfektion nehmen. Aber trinken oder konsumieren fand ich irgendwie seltsam."
Andreas entschied sich für Weingeist, reinen Lebensmittelalkohol. "Der ist zwar ein Ticken teurer, aber das geht in meinen Körper und da möchte ich es nicht an ein paar Euro und Cent scheitern lassen." (Diese Lösungsmittel sind tabu!)
Das gewonnene Extrakt löst er anschließend in MCT-Öl, füllt es in Pipettenfläschchen und berechnet die Dosierung: "10 Milliliter in einem Pipettenfläschchen, das geben rund 200 Tropfen. Und damit habe ich schon mal eine Hausnummer, weil 200 Tropfen, die kann man jetzt mal über einen Dreisatz dann runterrechnen."
Die Lehre aus der Überdosierung
Dass präzise Dosierung überlebenswichtig ist, musste Andreas am eigenen Leib erfahren. Bei seinen ersten Brownie-Versuchen erwischte er offenbar ein Stück aus der "Heavy-Ecke" eines ungleichmäßig gemischten Teigs:
"Ich bin dann irgendwann eingeschlafen. Wurde dann wach und hatte gefühlt im Liegen Puls von 140, als wenn ich gerade joggen wäre. Kalter Schweiß. Meine Frau sagte, ey, du bist kreidebleich." Er konnte nicht aufstehen, nicht mal sitzen. "Ganz ehrlich, ich habe zum ersten Mal im Leben so eine Nahtoderfahrung, habe ich gedacht, ich hab echt gedacht, ich krepier jetzt. Das war heftig."
Die Erkenntnis daraus: "Heute mit dem Wissen von damals, wenn ich an dieser Grenze arbeite, was geht, was geht nicht. Ich merke, das war jetzt bisschen zu viel [...] auch heute weiß ich, passiert nichts. Ich versuche dann diesen Moment auch zu genießen und einfach diesen Zustand zu akzeptieren und sich nicht dagegen zu wehren, weil das macht das Ganze viel angenehmer."
Indoor, Outdoor, Avocado: Die Vielseitigkeit der Notwendigkeit
Andreas experimentiert nicht nur mit Extraktionsmethoden, sondern auch mit Anbau und Rezepten. Outdoor findet er natürlicher und nachhaltiger, Indoor im Kühlschrank ("Fridge Grow") erlaubt ihm präzise Kontrolle: "Da kann ich mein Klima wirklich 1A punktgenau steuern [...] da kann ich so richtig als Nerd agieren und wirklich mit einem halben Grad Unterschied arbeiten und gucken, was passiert."
Feierliche Übergabe des Mit was Drin-Löffels bei der Mary Jane in Berlin
Und dann sind da seine Avocado Brownies – das Rezept, das ihm den symbolischen "Mit was drin"-Holzlöffel einbrachte. Hier geht's zum veganen Avocado Brownie Rezept
"Megalecker", schwärmt er, "weil eine Sache ist mir auch immer sehr wichtig: Es ist ja nicht nur, dass man eine vernünftige Schmerzmedikation bekommt, sondern dass man sich auch gesund ernährt."
Das Gaspedal-Bremse-Lenkrad-Prinzip
Besonders fasziniert ist Andreas von Terpenen – den Aromastoffen, die maßgeblich die Wirkung beeinflussen. Ein Arzt erklärte ihm das System einmal so: "THC ist das Gaspedal, CBD ist die Bremse und die Terpene sind das Lenkrad, die letztendlich entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Und das fand ich eine mega coole Beschreibung."
Er experimentiert gezielt: "Ich liebe einfach, die kriege ich auch verordnet, so Kusch-Genetiken oder Indica-lastige Strains. Ich habe auch schon mal probiert, eine Mango zum Konsum zu essen, weil da ist ja auch sehr, sehr viel Myrcen drin. Und das haben ja auch viele Indica-lastige Sorten [...] Ich weiß nicht, ob es Einbildung war, aber ich habe das Gefühl, mit der Mango zusammen war der Effekt noch bisschen stärker."
Die veränderte Community: Zwischen Familie und Monetarisierung
Die Teillegalisierung hat die Cannabis-Community verändert, findet Andreas: "Wenn ich die Zeit vor dem ersten April letzten Jahres mir anschaue, wo wir ja noch in der Illegalität waren [...] diese ganze Kultur um Cannabis herum hat ja leider Gottes immer so unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit agiert. Aber die Community, die sich da entwickelt hat, das war wie so eine Familie."
Heute dominieren Global Player und große Summen. "Dass schon die Global Player eine gewisse Wertigkeit in den Markt bringen und dadurch auch die Verwurzelung tiefer wird", sieht Andreas auch Vorteile. Aber: "Die Kultur um die Pflanze herum, die ist jetzt für mich nicht mehr so [...] Es ist nicht mehr so familiär. Es ist alles globaler, offener."
Auch auf Messen spiegelt sich das wider: "Wenn wir heute über eine Messe gehen, du siehst nur noch Grow-Equipment. Und alles unter dem Mantel größer, schneller, weiter, stärker, dicker. Maximierung von Anbau-Themen. Aber du hast immer weniger Lifestyle und Produkte ringsrum, wie auch Edibles."
Der Appell: Kämpft für eure Rechte
Was rät Andreas anderen Patienten, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen? "Kämpft für eure Rechte, seid selbstbewusst, weil wir haben Rechte. Und gerade wenn es darum geht, auch Ärzte zu finden, die cannabisaffin sind: Man muss am Ball bleiben. Man muss Klinken putzen, aber es wird leichter. Die Erfahrung mache ich hier, weil auch immer mehr jüngere Ärzte nachrücken und das Thema Cannabis ist nicht mehr überall ein Tabuthema."
Sein Leitsatz, den er vom Vater mitbekam: "Warte nicht darauf, dass sich dein Umfeld um dich herum ändert. Wenn du wirklich was ändern willst, packst selbst an."
Wenn wir von Andreas etwas lernen können, dann ist es nicht nur, wie man sicher und effektiv Cannabis-Medizin herstellt. Sondern vor allem: Dass ein System, das Patienten zu Autodidakten zwingt, dringend reformbedürftig ist.