40 Jahre unabhängige Cannabis-Aufklärung: Warum der Nachtschatten Verlag gerettet werden muss
Stell dir vor, du wirst zu drei Wochen Haft verurteilt – weil du Bücher verkaufst. Bücher über Hanfanbau, Kochrezepte mit Cannabis, Aufklärung über eine Pflanze. Das klingt nach einer dystopischen Geschichte aus einem anderen Jahrhundert. Doch genau das passierte Roger Liggenstorfer 1980 in der Schweiz.
Seine Reaktion auf diese Ungerechtigkeit? Die Gründung eines Verlags, der seit 40 Jahren genau das macht, wofür er verurteilt wurde: Menschen über psychoaktive Substanzen aufklären. Heute steht dieser Verlag vor dem Aus – und mit ihm würde eine wichtige Stimme für unabhängige, wissenschaftlich fundierte Information verstummen.
Die Geburt eines Verlags aus Widerstand
Urgestein Roger Liggenstorfer
Roger Liggenstorfer war in den frühen 1980er Jahren als Marktfahrer unterwegs. Nach seiner abgeschlossenen Banklehre hatte er sich entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Auf Märkten und Festivals verkaufte er Pfeifen, Papers – und eben auch Bücher über Cannabis.
"Meine Bücher wurden beschlagnahmt, hier in Solothurn damals, 1980, und ich wurde wegen öffentlicher Aufforderung zum Drogenkonsum zu drei Wochen Knast verurteilt", erzählt Roger im Interview. Das war damals wirklich noch tiefstes Mittelalter. Es reichte, Hanf-Anbau-Bücher und Hanf-Kochbücher zu verkaufen, um verurteilt zu werden.
Doch Roger ließ sich nicht einschüchtern. Er provozierte sogar einen zweiten Prozess, ging durch alle Instanzen. Seine Antwort auf die Repression? Die Gründung des Nachtschatten Verlags im Jahr 1984, mit dem Buch "Hanf in der Schweiz" als erstem Titel.
"Ich wollte niemanden auffordern zum Drogenkonsum", erklärt Roger, "aber ich sah, wie viele Leute damals gekifft haben, und habe gesagt: Die haben einfach ein Anrecht auf Informationen."
Warum unabhängige Aufklärung so wichtig ist
Die Mission des Nachtschatten Verlags lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Das größte Problem bei Drogen ist, dass Menschen nicht informiert sind.
"Wenn man über Drogen spricht oder auch konsumiert, das größte Problem ist eigentlich, dass man nicht informiert ist, dass man nicht weiß, wie man damit umgeht", sagt Lukas Emmenegger, seit zwölf Jahren Geschäftsführer des Verlags. "Das größte Problem ist wirklich, dass die Drogen verboten sind. Deswegen braucht es einfach unabhängige Basisinformation."
In den 40 Jahren seines Bestehens hat der Nachtschatten Verlag 44 Bücher allein zum Thema Hanf publiziert. Darunter echte Cannabis-Bibeln wie:
"Marihuana Growers Handbuch" von Ed Rosenthal
"Closet Cultivator"
"Hanf als Medizin" von Franjo Grotenhermen
Und viele weitere wissenschaftlich fundierte Werke
Die Anfänge waren revolutionär. Als Roger in den 1980er Jahren anfing, gab es kein Internet, keine Google-Suche, keine KI. "Ich habe die ersten Prospekte noch selber mit Lettraset designt", erinnert er sich. "Das war alles viel einfacher. Ich war gleichzeitig Marktfahrer, ging an die großen Festivals, habe da die Bücher verkauft. Die wurden mir zum Teil aus den Händen gerissen. Das gab es da einfach noch nicht."
Von der Aufbruchsstimmung zur Existenzkrise
Die ersten Jahrzehnte waren erfolgreich. Der Verlag wuchs, das Portfolio erweiterte sich über Cannabis hinaus auf andere Psychedelika, ethnobotanische Werke und wissenschaftliche Publikationen. Zum 20-jährigen Jubiläum gab es einen Hanfflug mit einem Londonbus durch die Schweiz. Das 30-jährige wurde mit einer fünftägigen Konferenz in Solothurn gefeiert.
Doch seit etwa 2020 häufen sich die Probleme:
1. Der Markt hat sich verändert Die Teillegalisierung in Deutschland 2024 brachte zunächst einen kurzen Boom – und dann einen dramatischen Einbruch. "Wir mussten Bücher nachdrucken", erklärt Lukas, "aber das Spiel war nach drei Monaten vorbei. Jetzt sitzen wir auf den Büchern."
2. Cannabis-Anbaubücher laufen nicht mehr "Die Leute brauchen keinen Anbau mehr zu machen in Deutschland", analysiert Roger. "Die kriegen ja das Gras überall. Dass man das selbst zu Hause machen muss – wozu noch die großen, fundierten Bücher kaufen?"
3. KI-generierte Billigkonkurrenz "Es gibt halt auch viele KI-generierte Hanfbücher überall", sagt Lukas frustriert. "Man kann so KI-generierte Bücher machen und bei Amazon reinstellen. Die Leute, die das nicht hinterfragen, denken, okay, kostet nur 9,99 – ist eigentlich ein Extrakt aus einem Buch von uns. Aber das sieht man dann gar nicht mehr."
4. Amazon frisst die Margen "Wenn wir alle unsere Bücher nur bei Amazon verkaufen würden, könnten wir morgen zumachen", stellt Roger klar. "Da bleibt zu wenig hängen."
5. Messen sind zum Jahrmarkt verkommen "Für ein Glücksspiel, für die Glücksräder an den ersten Ständen, da stehen die Leute an", beobachtet Lukas resigniert. "Dafür stehen sie an, aber ein gutes Buch kaufen, das ist ihnen dann zu teuer. Das wird so ein bisschen zum Jahrmarkt."
Lukas Emmenegger: "Man kann so KI-generierte Bücher machen und bei Amazon reinstellen. Die Leute, die das nicht hinterfragen, denken, okay, kostet nur 9,99 – ist eigentlich ein Extrakt aus einem Buch von uns. Aber das sieht man dann gar nicht mehr."
Die aktuelle Situation: Existenzbedrohung
Im Mai 2024 begann eine Phase katastrophaler Umsätze. Das kleine Reservekonto war aufgebraucht. Roger und Lukas konnten sich monatelang kaum mehr als die Hälfte ihres Gehalts auszahlen. Offene Rechnungen häuften sich, Autorenhonorare konnten nicht gezahlt werden.
"Vor einem Monat war noch eine tiefe Depression", gibt Lukas zu. "Scheiße, geht es überhaupt weiter? Es wäre jetzt nicht gerade von heute auf morgen ganz eingegangen, aber es ging immer mehr runter, runter, runter."
Das vierköpfige Team – Roger, Lukas, Mitarbeiterin Caro und Autor Markus Berger – stand vor der Entscheidung: Aufgeben oder um Hilfe bitten.
Die Rettung: Crowdfunding und Community
Die Antwort war eine Crowdfunding-Kampagne mit dem Ziel von 75.000 Schweizer Franken. Clever aufgebaut mit verschiedenen Belohnungen:
10 CHF: Gutes Gefühl
50 CHF: Lucy's Magazin-Paket oder Postkarten-Set
100 CHF: Büchergutschein und E-Books
2.000 CHF: Nachtschatten-Essen mit Roger und Lukas
3.000 CHF: Aktie am Verlag
Das erste Geld geht an die Existenzsicherung: offene Rechnungen, Löhne, Schulden. Der zweite Teil fließt in die Transformation:
Neue Lucy's Magazin Statt der aktuellen Ausgabe für 14,80 CHF soll eine günstigere Version unter 5 Euro entstehen – 64 Seiten, einfacher produziert, aber voller Information. "Für viele Leute ist 14,80 noch zu teuer", erklärt Roger. "Für schlechtes Gras haben die Leute Geld, aber nicht für gute Bücher."
Digitale Präsenz ausbauen
YouTube-Format alle 14 Tage mit Cannabis-News
Social-Media-Manager einstellen
Webseite modernisieren
Nachtschatten Akademie mit Webinaren und Kursen
Förderkreis etablieren Ein Member-Club soll regelmäßige Unterstützung ermöglichen – mit günstigeren Einkaufspreisen, exklusivem Content und der Möglichkeit, bei Messen mitzuhelfen.
Was du konkret tun kannst
1. Bücher direkt beim Verlag bestellen Nicht bei Amazon! Der Nachtschatten Verlag bietet sogar Porto-freie Lieferung an (freiwillige Beteiligung). Selbst wenn du das Porto nicht bezahlst, verdient der Verlag mehr als bei einem Amazon-Verkauf.
2. Crowdfunding unterstützen Noch läuft die Kampagne. Jeder Betrag hilft – und es gibt echte Gegenwerte dafür.
3. Skills anbieten Kannst du Texte lektorieren? Grafiken erstellen? Social Media managen? Der Verlag sucht Menschen, die mit ihren Fähigkeiten unterstützen möchten.
4. Teilen und verbreiten Erzähl deinen Freunden von dieser Geschichte. Teile das Interview. Mach die Community auf die Situation aufmerksam.
5. Lucy's Magazin abonnieren oder verteilen Werde Botschafter:in und bring das Magazin zu Festivals oder in deinen Freundeskreis.
Warum es sich lohnt
"Krisen als Chancen, Steh-auf-Männchen, wir lassen uns nicht so schnell unterkriegen", sagt Roger kämpferisch. Der Verlag hat einen Plan. Die Transformation ist durchdacht. Es geht nicht nur um Schuldenabbau, sondern um eine nachhaltige Neuausrichtung.
Was auf dem Spiel steht, ist mehr als ein Verlag. Es geht um 40 Jahre unabhängige Aufklärung, um Bücher, die Leben gerettet haben, indem sie Menschen über sichere Dosierung, Risiken und Wechselwirkungen informierten. Es geht um eine Alternative zu oberflächlichen KI-Texten und kommerziellen Interessen.
"Gemeinsam sind wir stark, wenn die Community zusammenarbeitet und zusammenhält", fasst Lukas zusammen.
Die Reaktion der Community ist bereits überwältigend. "Es tut so gut zu sehen, wie viele uns unterstützen", sagt Roger bewegt. "Wir haben jetzt fast 270 Unterstützer:innen bei der Crowdfunding-Kampagne. Das zeigt: Die Menschen wollen, dass wir weitermachen."
Fazit
Der Nachtschatten Verlag begann mit einem Akt des Widerstands gegen Zensur. 40 Jahre später kämpft er erneut – diesmal nicht gegen Gerichte, sondern gegen Algorithmen, Marktveränderungen und die Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters.
Doch eines hat sich nicht geändert: Die Notwendigkeit für unabhängige, wissenschaftlich fundierte Information über psychoaktive Substanzen.
In einer Zeit, in der KI Texte generiert, deren Quellen niemand kennt, in der Amazon den Buchmarkt dominiert und in der echte Expertise im Lärm der sozialen Medien untergeht, brauchen wir Verlage wie Nachtschatten mehr denn je.
Lass uns gemeinsam dafür sorgen, dass diese Stimme nicht verstummt.
🔗 Unterstütze den Nachtschatten Verlag:
Crowdfunding: https://wemakeit.com/projects/rettet-den-nachtschatten
Website: nachtschatten.ch
Kontakt: info@nachtschatten.ch
Lucy's Magazin: lucys-magazin.com